
Traumatische Erinnerungen weisen eine einzigartige neurobiologische Struktur auf, die sie grundlegend von autobiografischen Erinnerungen unterscheidet. Autobiografische Erinnerungen können in der Regel bewußt abgerufen und zeitlich und kontextuell zugeordnet werden. Traumatische Erinnerungen zeichnen sich (oft) durch ein fragmentiertes, sensorisch-motorisches Wiedererleben aus, welches sich der bewussten Kontrolle entzieht.
Neurobiologische Grundlagen traumatischer Erinnerungen
Autobiografische Erinnerungen entstehen durch die Integration sensorischer und motorischer Erfahrungen in übergeordnete kognitive Netzwerke wie das Default Mode Network (DMN). Dieses ermöglicht eine klare Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und sorgt für eine flexible Verarbeitung von Erinnerungen.
Traumatische Erinnerungen hingegen bleiben in niederschwelligen sensorisch-motorischen Prozessen isoliert und können nicht in eine kohärente autobiografische Erzählung integriert werden. Sie werden durch sensorische Reize unwillkürlich reaktiviert und rufen intensive emotionale und körperliche Reaktionen hervor, die das Erlebte als gegenwärtig erscheinen lassen.
Unterschiede zwischen autobiografischen und traumatischen Erinnerungen

Diese Unterschiede erklären, warum klassische erinnerungsbasierte Befragungsmethoden in der Traumabehandlung oder im juristischen Kontext oft unzureichend sind.
Neurobiologische Mechanismen hinter traumatischen Erinnerungen
- Subkortikale und sensorimotorische Netzwerke:
- Traumatische Erinnerungen sind mit einer Hyperaktivierung subkortikaler Strukturen wie des periaquäduktalen Graus (PAG) und der Amygdala verbunden, die für automatische Bedrohungsreaktionen zuständig sind.
- Eine anhaltende funktionale Kopplung zwischen dem PAG und dem DMN führt dazu, dass Erinnerungen nicht als vergangene Ereignisse erkannt, sondern als gegenwärtig erlebt werden.
- Veränderte sensorimotorische Verarbeitung:
- Die sensorischen und motorischen Netzwerke sind in PTBS-Betroffenen dysreguliert.
- Während sensorische Reize bei gesunden Personen in übergeordnete kognitive Netzwerke integriert werden, bleibt in PTBS eine Hypervernetzung mit dem DMN bestehen, wodurch sensorische Fragmente des Traumas dominant bleiben.
- Beeinträchtigung des Gedächtnis-Updates:
- Während sich autobiografische Erinnerungen durch neue Erfahrungen verändern, bleiben traumatische Erinnerungen aufgrund von Defiziten in den prädiktiven und integrativen Mechanismen des Gehirns bis zur Verarbeitung statisch.
- Unverarbeitete sensorische Fragmente können nicht mit der aktuellen Realität abgeglichen werden, was zu wiederkehrenden Flashbacks führt.
Implikationen für Psychotherapie und Forschung
Die Erkenntnisse aus diesem Artikel haben bedeutende Konsequenzen für Therapieansätze und diagnostische Methoden:
Klinische Praxis:
- Herkömmliche gesprächsbasierte Ansätze greifen oft zu kurz, da sie die sensorimotorische Fragmentierung traumatischer Erinnerungen nicht ausreichend adressieren.
- Effektive Interventionen sollten sensorische und motorische Prozesse gezielt einbeziehen, z. B. durch somatische Therapieansätze, EMDR, Neurofeedback oder körperorientierte Verfahren wie Somatic Experiencing.
Juristische Bewertung traumatischer Erinnerungen:
- Die Annahme, dass traumatische Erinnerungen ähnlich wie autobiografische Erinnerungen abgefragt werden können, ist problematisch.
- Interrogationsmethoden, die sprachliche Kohärenz und Detailgenauigkeit fordern, sind für traumatisierte Zeug:innen oft ungeeignet und können zu Fehleinschätzungen führen.
Zukunft der Forschung:
- Neurobiologische Studien sollten vermehrt sensorische und motorische Aspekte der Trauma-Reaktivierung untersuchen.
- Machine-Learning-Ansätze könnten dabei helfen, individuelle Muster in der Gedächtnisverarbeitung zu erkennen und personalisierte Therapieansätze zu entwickeln.
Fazit
Traumatische Erinnerungen unterscheiden sich grundlegend von autobiografischen Erinnerungen – sowohl in ihrer Phänomenologie als auch in ihrer neurobiologischen Repräsentation. Kearney & Lanius (2024) fordern daher einen Paradigmenwechsel in der klinischen und juristischen Betrachtung von Traumafolgestörungen. Die Integration von sensorischen und motorischen Erfahrungen in therapeutische Interventionen könnte neue Möglichkeiten eröffnen, um die Fragmentierung traumatischer Erinnerungen zu überwinden und Patient:innen zu helfen, ihre Vergangenheit in einen kontrollierten, erinnerbaren Kontext zu integrieren.
(Quelle: Jan Gysi (jangysi.ch) sowie: Kearney, B. E., & Lanius, R. A. (2024). Why reliving is not remembering and the unique neurobiological representation of traumatic memory. Nature Mental Health, 2(10), 1142-1151.
https://doi.org/10.1038/s44220-024-00324-z
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