Diese Seite richtet sich sowohl an Trauma-Betroffene als auch an Fachkräfte. Ich gehe hier ein wenig detaillierter auf die diagnostischen Kriterien ein, lasse aber auch manche Aspekte aus, um es nicht zu komplex werden zu lassen. Therapeutischen Fachkräften empfehle ich zur Vertiefung unsere Seminare zur Diagnostik.
Zu Beginn einer Traumatherapie kommt es oft zur Anwendung von diagnostischen Testerfahren. Auf diese werde ich hier im Detail nicht eingehen, sondern ausschließlich auf die klinisch-diagnostischen Kriterien zur Definition von Traumatisierungen. Einige Testverfahren werden auf unseren Seminaren vorgestellt.
Laut ICD-10 (die noch gültige diagnostische Klassifikation) müssen bestimme Kriterien bestehen, um eine PTBS zu diagnostizieren.
Definition Trauma im ICD-10
A. Die Betroffenen sind einem kurz- oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Verbindung stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem Erlebnis.
D. Entweder 1. oder 2.
- Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.
- Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a) Ein- und Durchschlafstörungen; b) Reizbarkeit oder Wutausbrüche; c) Konzentrationsschwierigkeiten; d) erhöhte Schreckhaftigkeit.
Erst wenn A,B,C und Punkt 1. oder 2. von D zutreffen wird die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gestellt. Die Ziffer dieser Diagnose lautet: F43.1
Viele Menschen, die Traumatisierungen erlitten haben, lassen sich aber nicht in diese Kriterien eingliedern. Zum Beispiel haben nicht wenige Traumatisierte keinerlei Erinnerung mehr an das, was ihnen widerfahren ist, so dass es auch nicht zu Flashbacks und anderen Intrusionen kommt. Viel zu kurz kommt in der Definition auch die Traumatisierung durch das, was nicht passiert ist. z.B. wenn Eltern den Bedürfnissen eines Kindes nicht begegnen, dieses alleine lassen in hilflosen Momenten.
Mittlerweile gibt es eine neue Version des ICD, nämlich das ICD-11. Dieses findet offiziell noch keine Anwendung. Ich möchte es aber an dieser Stelle bereits erwähnen, denn es bringt einige wesentliche Neuerungen. Auch diese decken nicht das ganze Spektrum traumatisierenden Erfahrungen ab, aber es gibt dennoch einige positive Veränderungen. Siehe hierzu auch dieses Interview mit Luise Reddemann.
Im ICD-11 gibt es nun eine eigene Kategorie zu «Störungen besonders assoziiert mit Stress». In dieser werden Störungen aufgeführt, die besonders und ursächlich auf traumatische Erfahrungen zurückzuführen sind. Auch wurden neue Diagnoseziffern eingeführt. Folgende Kategorien werden nun definiert:
- Posttraumatische Belastungsstörung (6B40) = F43.1 im ICD-10
- Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung(6B41)
- Verlängerte Trauerreaktion (6B42)
- Anpassungsstörung (6B43)
Bei allen Diagnosen müssen die Symptome wesentliche Einbussen in verschiedenen Lebensbereichen beinhalten (persönlich, Familie, Soziales, Ausbildung, Arbeit, oder anderes)
Definition Trauma im ICD-11
- ICD-11 PTBS: Ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen.
- ICD-11 Komplexe PTBS: Ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich war (z.B. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindesmissbrauch).
Mit dem ICD-11 hat die WHO also nun anerkannt, dass wiederholte, besonders schwere Gewalterfahrungen besondere psychische Folgen verursachen können.
Die Kriterien der „einfachen“ PTBS haben sich gegenüber dem ICD-10 nicht wesentlich verändert. Wer die Details wissen möchte, dem empfehle ich das Buch von Jan Gysi.
Zusätzlich zu den PTBS Kriterien müssen bei der K-PTBS folgende Kriterien erfüllt sein:
- Schwere und tiefgreifende Probleme der Affektregulation
- Andauernde Ansichten über sich selber als vermindert, unterlegen oder wertlos, verbunden mit schweren und tiefgreifenden Gefühlen von Scham, Schuld oder Versagen in Verbindung mit dem traumatischen Ereignis; und
- Andauernde Schwierigkeiten in tragenden Beziehungen oder im Gefühl der Nähe zu anderen.
Die Symptome müssen mindestens über mehrere Wochen auftreten und wesentliche Einbussen in verschiedenen Lebensbereichen beinhalten (persönlich, Familie, Soziales, Ausbildung, Arbeit, oder andere).
Neu findet sich im ICD-11 nun auch etliche Kategorien rund um das Thema „Dissoziationen“ und zum ersten Mal findet nun die „Dissoziative Identitätsstörung“ Erwähnung.
Dissoziative Störungen (6B6) im ICD-11
- Dissoziativ-neurologische Symptomstörungen (6B60)
- Dissoziative Amnesien (6B61)
- Trance Störung (6B62)
- “Possession trance disorder” (6B63)
- Dissoziative Identitätsstörung (6B64)
- Partielle Dissoziative Identitätsstörung (6B65)
- Depersonalisations-Derealisationsstörung(6B66)
Psychotherapeutisch tätigen Personen, die tiefer in das Thema Einsteigen möchten, empfehle ich unter anderem unser Diagnostik Seminar oder das Buch von Jan Gysi.
Gut ist, dass im ICD-11 nun auch die sozialen Auswirkungen von frühen und komplexen traumatisierenden Erfahrungen Beachtung finden. Ebenso diejenigen, die mit Selbstbild, Selbstregulation und Beziehungen zu tun haben. Es wird im ICD-11 deutlicher welch schwierige Auswirkungen Traumatisierungen auf das Leben der Betroffenen haben. Was mir immer noch fehlt, ist der Fokus auf all die Erfahrungen, die insbesondere in der Kindheit durch das nicht-Reagieren der Eltern und Bezugspersonen, durch Vernachlässigung im Kindesalter gemacht wurden. Und ich spreche hier nicht notwendig von „schlechten“ Eltern. Triggerwarnung: ich spreche im nächsten Absatz von Erfahrungen von Vernachlässigung.
So ist es zum Beispiel bis heute (und in den 70ern standardmässig) in manchen Familien üblich, dass schon nach kurzer Zeit ein Kind nachts nicht mehr gestillt wird und es dann schreien gelassen wird, damit es „den Rhythmus der Eltern lernt“. Auch werden Kinder, damit sie „schlafen lernen“ gerne mal alleine im dunklen Zimmer gelassen, selbst wenn sie schreien, weil irgendein Ratgeber oder andere „wohlmeinende“ Eltern behaupten, dass das Kind nur so lernen wird, alleine einzuschlafen. Kinder werden bis heute oft direkt nach der Geburt von den Eltern entfernt, zum Beispiel für Untersuchungen an ihnen, statt sie sich erst mal -mit enger körperlicher Nähe zur Mutter- von den Strapazen der Geburt erholen zu lassen und an die neue, viel lautere und hellere Umgebung gewöhnen zu lassen. Weitere Beispiele wären frühe Krankenhausaufenthalte, Operationen, ohne das Eltern das Kind begleiten konnten. Aber auch ein depressiver oder überforderter Elternteil, der emotional konstant abwesend ist und das Kind nicht co-regulieren kann.
Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen. Die vielfältigen Erfahrungen von Vernachlässigung von Kindern dadurch, dass ihren natürlichen Bedürfnissen oft nicht, oder nicht adäquat begegnet wird, finden noch viel zu wenig Beachtung in der Traumadiagnostik, während sie in der Traumatherapie einen großen Anteil unserer Arbeit mit den Klient:innen ausmachen. Glücklicherweise erlangt die Bindungsorientierte Erziehung mehr und mehr Bekanntheit und führt so Eltern und ihre Kinder zurück zu dem, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Mir ist dabei durchaus bewusst, dass eine Umsetzung dieses Konzepts in unserer aktuellen Gesellschaftsstruktur äusserst herausfordernd ist und im schlimmsten Fall zu Schuldgefühlen bei den Eltern führen kann. Ich sehe es aber als Aufgabe unserer Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass angemessene Bindung wieder den Raum bekommt, den sie verdient hat. Ein Buch, welches hervorragend aufzeigt dass Traumatisierung bereits durch gesellschaftliche Strukturen angelegt ist, ist das Buch „Vom Mythos des Normalen“ von Gabor Maté.