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Warum habe ich mich nicht gewehrt?

Manche Menschen, die in einer bedrohlichen Situation traumatisiert worden, stellen sich später oft Fragen wie „Warum habe ich mich nicht gewehrt?“, „Warum habe ich nicht um Hilfe gerufen?“ usw. Daraus entstehen oft Schuldgefühle. „Hätte ich laut gerufen, dann wäre ich vielleicht gerettet worden.“, „Hätte ich mich gewehrt, dann hätte ich eine Chance gehabt.“. Tatsächlich ist es oft so, dass es diese Möglichkeit auf Gund der Reaktion des Nervensystems nicht gegeben hätte.

Ich beziehe mich in diesen Ausführungen primär auf erwachsene Personen, bei Kindern, die emotional und körperlich abhängig von ihren Bezugspersonen sind, kommen zusätzliche Faktoren hinzu.

In einer bedrohlichen Situation muss unser Nervensystem in Sekundenschnelle entscheiden, ob Kampf oder Flucht möglich sind. Entscheidet das Nervensystem, dass dies Optionen wären, dann spannen sich die Muskeln an, das Herz schlägt schneller, die Augen weiten sich. Gleichzeitig fixiert sich das Denken auf alle Varianten, die unser Überleben sichern könnten. In diesem Zustand wäre es durchaus möglich, sich zu wehren oder um Hilfe zu schreien. Oft gibt es diese Chance jedoch nicht, weil der Täter zum Beispiel deutlich stärker ist, oder es keine Chance gibt, aus der Situation zu entfliehen. In diesem Fall reguliert das Nervensystem die körperlichen Reaktionen herunter.

Es kommt zur Erschlaffung der Muskulatur und einer Einschränkung des Bewusstseins, eventuell bis hin zur Dissoziation. In diesem Zustand geht das Nervensystem davon aus, dass die Bedrohung so stark ist, dass sie sehr schmerzhaft (auch emotionaler Schmerz ist hier inbegriffen), oder sogar tödlich verlaufen kann. Dies geschieht, um die Erfahrung aushaltbar zu machen. Endorphine werden ausgeschüttet, um den Schmerz zu dämpfen. Ist eine Person im Zustand der „Erstarrung“ oder sogar „Erschlaffung“, dann ist ein Hilferuf oder sich zu wehren physiologisch schlichtweg nicht möglich. Sich diesen Aspekt bewusst zu machen ist ein erster wichtiger Schritt, um mögliche, mit einer Traumatisierung verbundene Schuldgefühle, aufzuarbeiten.