Eine Geschichte, die ich gerne meinen Klient*innen erzähle, ist folgende: Die Kita meiner Tochter war eine Elterninitiative. Das heisst, wir Eltern haben diese gegründet und entsprechend auch die Einstellungsgespräche mit den potentiellen Erzieher*innen geführt. Eines Abends sassen wir Eltern also alle an einem Tisch und hörten von einer Bewerberin folgenden Satz: „Ich komme immer zuerst… und dann kommen eure Kinder“. Wir wichen allen innerlich zurück und warfen uns Blicke zu, die sagten „Die Frau wird auf keinen Fall eingestellt“. Doch dann ergänzte sie: „Stellt euch vor, es ist Winter und ich bin mit 8 Kindern draussen gewesen und komme zurück in die warme Kita. Wenn ich dann nicht zuerst meine Jacke ausziehe und für mich sorge, dann ist mir beim dritten Kind, dessen Jacke ich ausziehen muss so heiss, dass ich schlechte Laune bekomme und nicht mehr nett zu eurem Kind bin. Ich muss also zuerst für mich sorgen, damit ich gut für eure Kinder sorgen kann“.
Plötzlich klang „Ich komme immer zuerst…“ ganz anders in meinen Ohren und ich stimmte ihr innerlich zu. Natürlich ist es wichtig, dass es ihr gut geht und dass sie zunächst für sich sorgt. Es ist die Bedingung, dass sie gut für andere da ist. Diese Szene ist nun viele Jahre her, doch sie ist noch immer ein Teil meiner Realität. Gleiches gilt für mich. Wenn ich gut für meine Klient*innen da sein möchte, muss ich zunächst gut für mich sorgen. Denn nur, wenn es mir gut geht, dann habe ich genug Energie übrig, um gut für andere da sein zu können. Und natürlich gilt das auch für alle anderen. Sorge zunächst gut für Dich und im Umkehrschluss: wenn es Dir gerade nicht so gut geht, ist es natürlich vollkommen in Ordnung, auch mal eine Bitte abzulehnen. Es gibt natürlich Ausnahmen, in denen man die eigene Befindlichkeit auch mal beiseite stellen muss. Wäre zum Beispiel beim obigen Beispiel mit der Erzieherin ein Kind auf dem Weg in die Kita hingefallen und würde nun weinen, dann hat dies selbstverständlich Vorrang, denn der Trost des Kindes ist für den Moment dann wichtiger, als die zu warme Jacke der Erzieherin. Das Prinzip „Ich sorge zuerst für mich, damit ich (auch) gut für andere sorgen kann“ halte ich dennoch für eine sehr gesunde Haltung. Und manchmal kann dies auch heissen: Ich stelle mich selbst für eine lange Zeit in der Vordergrund, denn es ist wichtig, dass ich die nächsten Monate (oder Jahre) vor allem für mich selbst sorge. Viele, gerade früh bindungstraumatisierte Menschen, haben nämlich einen langen Zeitraum erlebt, dass die Bedürfnisse anderer mehr zählen, als die eigenen, haben es zu einer inneren Selbstverständlichkeit werden lassen, sich selbst zurück zu nehmen und bedingungslos zu erfüllen, was von ihnen verlangt wird. Um das dann zu kompensieren, kann es notwendig sein, erst mal eine ganze Weile primär an sich selbst zu denken und alles andere zurück zu stellen. Manchen hilft diese Geschichte, zu erkennen, dass „Ich komme immer zuerst“ nicht nur nicht egoistisch ist, sondern essentiell, selbst wenn ich (ab und an) auch mal für andere da sein möchte.